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Ursachen des Missbrauchs

Bischof: Kindesmissbrauch auch eine Folge der sexuellen Revolution

Der sexuelle Kindesmissbrauch an katholischen Einrichtungen ist nach Ansicht des Augsburger Bischofs Walter Mixa auch eine Folge der zunehmenden Sexualisierung der Öffentlichkeit. Einen Zusammenhang zwischen den Übergriffen und dem Pflichtzölibat sieht Mixa nicht. Der deutsche Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann macht hingegen die kirchlichen Strukturen für den jüngsten Missbrauchsskandal mitverantwortlich. Der „kardinale Fehler der katholischen Kirche“ besteht nach Ansicht Drewermanns darin, „ihre Kleriker zu nötigen, zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zum Menschen alternativisch zu wählen“.

Sexueller Missbrauch von Kindern sei ein verbreitetes gesellschaftliches Übel, das auch in Familien, Schulen oder Sportvereinen auftrete, so Bischof Mixa in einem Interview mit der „Augsburger Allgemeinen“ (Dienstag). Daran sei, so Mixa, „die sogenannte sexuelle Revolution, in deren Verlauf von besonders progressiven Moralkritikern auch die Legalisierung von sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Minderjährigen gefordert wurde“, „sicher nicht unschuldig“. Die seiner Meinung nach in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende „Sexualisierung der Öffentlichkeit“ hätte „auch abnorme sexuelle Neigungen“ eher gefördert als begrenzt, so Mixa.
Kein Zusammenhang mit dem Zölibat

Einen Zusammenhang zwischen dem Zölibat und den sexuellen Übergriffen erkennt Mixa indessen nicht. Es gebe keinen Zusammenhang zwischen Pädophilieund dem Zölibat, darauf hätten unabhängige Experten hingewiesen, so Mixa. „Der ganz überwiegende Teil entsprechender Sexualstraftaten wird von verheirateten Männern, oft im verwandtschaftlichen Umfeld der Opfer, begangen“, sagte Mixa. Ehelos lebende Priester sind nach Auffassung des Bischofs in der Regel sexuell völlig normal orientiert, verzichteten aber freiwillig auf Ehe und Sexualität.
Kirche ist möglicherweise „einem Zeitgeist aufgesessen“

Bischof Mixa nannte die Übergriffe von Geistlichen auf Jugendliche ein „besonders abscheuliches Verbrechen“. Als Seelsorger mache es ihn „zutiefst betroffen“, wie selbst Priester in „entsetzlicher Weise schuldig werden können“, sagte Mixa. Der Bischof räumte ein, dass in der Kirche Verantwortliche in der Vergangenheit gegenüber Sexualdelikten an Kindern und Jugendlichen „zu blauäugig“ waren. „Da sind kirchliche Verantwortungsträger möglicherweise auch einem Zeitgeist aufgesessen, der selbst im Bereich des staatlichen Strafrechts Resozialisierung statt Strafe propagierte“, so der Bischof. „In der Vergangenheit hat oft der gut gemeinte Versuch, die Opfer vor einer voyeuristischen Berichterstattung zu schützen, in Wahrheit die Opfer zusätzlich gequält und die Täter geschützt.“
Drewermann wirft Kirche Mitschuld vor

Nach Ansicht des vor fünf Jahren aus der römisch-katholischen Kirche ausgetretenen deutschen Theologen und Psychotherapeuten Eugen Drewermann besteht der „kardinale Fehler der katholischen Kirche“ darin, „ihre Kleriker zu nötigen, zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zum Menschen alternativisch zu wählen“. Das sei „gegen ein zentrales Anliegen der gesamten Botschaft Jesu und nicht weniger gegen elementare Bedürfnisse der Menschen“ gerichtet, kritisierte Drewermann im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Schon vor 20 Jahren hatte der Theologe und Psychotherapeut in seinem Bestseller „Kleriker“ die katholische Sexualmoral und das Heiratsverbot für Priester kritisiert. „An dieser Stelle muss die Kirche Roms von der Haltung der Reformation im 16. Jahrhundert nach nun einem halbem Jahrtausend endlich lernen“, sagte Drewermann. Martin Luther habe das richtig gesehen. „Man liebt Gott in den Menschen und nicht gegen die Menschen.“
Nachdenken über die Strukturen ist in der katholischen Kirche „prinzipiell unmöglich“

Hinzu komme, dass die Spaltung zwischen der Kirche als Institution und den Menschen als Personen aufrechterhalten werde, kritisierte Drewermann im Gespräch mit der dpa. „Die Kirche als Institution ist von Gott gesetzt, vom Geist geleitet und in ihren Entscheidungen unfehlbar.“ Die Menschen aber seien schwach und könnten mit ihren Handlungen die Heiligkeit der Kirche schwer belasten, sagte Drewermann. „Was bei diesem Denken unmöglich ist, prinzipiell methodisch unmöglich, ist darüber nachzudenken, welche Strukturfehler im System die Fehler der Menschen provozieren müssen.“
„Repressive Sexualmoral“

„Die repressive Sexualmoral beispielsweise führt zu allen möglichen Verformungen der Triebentwicklung schon im Kindesalter, bei Jugendlichen, bei Klerikern“, kritisierte der ehemalige Dozent für Religionsgeschichte und Dogmatik an der katholischen theologischen Fakultät in Paderborn, dem 1991 die kirchliche Lehrerlaubnis entzogen worden war. „Und es ist keine Übertreibung zu glauben, dass die Furcht der katholischen Kirche vor der Homosexualität begründet ist in den Folgen ihrer eigenen Sexualfeindlichkeit.“
Kirche will die Ursachen der Tragödie nicht erforschen

Gleichzeitig nahm Drewermann die betroffenen Geistlichen vor dem Vorwurf in Schutz, ihren Beruf gezielt gewählt zu haben, um leichter an junge Menschen heranzukommen. „Sagen muss man, dass keiner der Jesuiten oder anderen Geistlichen, die in Missbrauchshandlungen verwickelt sind, einmal in den Orden eingetreten ist oder Priester hat werden wollen mit der Absicht, eines Tages derartige Verbrechen zu begehen.“ Dahinter stecke eine Tragödie, welche die Kirche sich geweigert habe aufzuarbeiten und deren Ursachen sie bis heute nicht willens sei zu erforschen. „Und dann zeigt sich im Ganzen, sie schützt sich selbst als Apparat vor den Menschen und gegen den Menschen.“
Drewermann rechnet mit Missbrauchsskandalen auch in anderen Ländern

Nach Einschätzung Drewermanns hat der Missbrauch in der katholischen Kirche einen noch weitaus größeren Umfang als bisher angenommen. „Man muss unterstellen, dass in all den Ländern, in denen die katholische Kirche Macht besitzt, Kinder auszubilden und ein Monopol zu erheben in vielen Bildungsbereichen, die gleichen Fakten aufzufinden sein werden.“ Das seien jetzt Irland, die USA und Deutschland. „Aber man kann mit Blindheit vermuten, dass es bei näherem Nachsehen viele andere katholisch geprägte Länder womöglich noch viel ärger betreffen wird.“ Zur Bewältigung der Missbrauchsproblematik empfiehlt Drewermann der Kirche eine Reform ihrer Strukturen. „Geben Sie Gedankenfreiheit hier. Das wusste die Reformation. Man kann nicht Glauben definieren an den Menschen vorbei.“

Quelle: religion.orf.at
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Psychiater übt Kritik an Priesterausbildung

Sind von oben herab verordnete Ehelosigkeit und sexuelle Enthaltsamkeit für Ordensleute und Priester mitverantwortlich für die sexuellen Übergriffe auf Kinder in katholischen Einrichtungen?

Für Psychiater Reinhard Haller ist Sexualität eine „extrem große Macht“, die durch Verbote nicht zu bändigen ist.
Wien/Bregenz. Sind von oben herab verordnete Ehelosigkeit und sexuelle Enthaltsamkeit für Ordensleute und Priester mitverantwortlich für die sexuellen Übergriffe auf Kinder in katholischen Einrichtungen? Eine Frage, die sich bei der Suche nach den Gründen für die Missbrauchsfälle in kirchlichen Einrichtungen derzeit viele Stellen. Der Psychiater und Gerichtssachverständige Reinhard Haller sieht jedenfalls einen direkten Zusammenhang zwischen dem Zölibat und einigen nun publik gewordenen Fällen.
„In der Psychiatrie sprechen wir vom sogenannten ,Dampfkesselmodell‘“, sagt Haller. Die Theorie gehe davon aus, dass die Sexualität des Menschen eine „extrem große und schwer kontrollierbare Macht“ sei, die permanent Druck aufbaue. Haller: „Wenn das Ausleben der Sexualität nicht erlaubt ist, liegt es auf der Hand, dass es zum Ausleben von ,Notlösungen‘ kommen kann, die dann auf Kosten anderer gehen.“ Haller räumt zwar ein, dass es keine systematischen Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Zölibat und dadurch provozierten sexuellen Missbrauch gebe, verweist aber darauf, dass das „Dampfkesselmodell“ ein in sich schlüssiges theoretisches Modell sei, das zudem nicht nur auf das Ausleben von Sexualität angewendet werde.

Warum aber der Eindruck, dass vor allem katholische Priester und Ordensleute ein schwieriges Verhältnis zu Sexualität haben? Haller: „Fälle von Missbrauch gibt es natürlich auch außerhalb des Katholizismus.“ Einzigartig jedoch sei, dass die Ausbildung der Betroffenen bezüglich Geschlechtlichkeit von der Obrigkeit „sträflich vernachlässigt wird“.

Der Psychiater verweist in diesem Zusammenhang auf einen wegen Missbrauchs angeklagten Priester, den er einst für das Gericht beurteilte. „Der Mann hat mir erzählt, dass während seiner Ausbildung das Thema Sexualität ein einziges Mal auf dem Lehrplan stand. Der Vortragende soll den Seminaristen Folgendes erklärt haben: ,Was wir heute besprechen sollten, wissen Sie ja ohnedies. Also: Nächstes Thema.‘“

Haller ist der Meinung, dass eine bessere Ausbildung über den Umgang mit sexueller Enthaltsamkeit einiges an Problemen verhindern könnte.

Quelle: diepresse.com
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Deutsche Odenwaldschule: „Ein geschlossenes System“

Der erste Missbrauchsfall an einer nichtkirchlichen Schule in Deutschland hat eine noch unüberschaubare Größenordnung. Zudem lenkt er den Blick vom religiösen zum pädagogischen Kontext.
In Deutschland nimmt der erste bekannt gewordene Fall von Kindesmissbrauch an einem nichtkirchlichen Internat, der renommierten Odenwaldschule, immer unüberschaubarere Ausmaße an: 24 Schüler (und Schülerinnen), die in den 70er- und 80er-Jahren von Lehrern sexuell missbraucht wurden – einer 400 Mal vom ehemaligen Schulleiter persönlich –, haben sich gemeldet, andere nahmen mit der heutigen Schulleiterin, Margarita Kaufmann, Kontakt auf. Sie hat zum Bilanzieren Briefe an alle 900 Schüler geschickt, die damals die Schule besuchten.
Von diesem Fall kann man sich nicht achselzuckend bis angewidert abwenden, wie von denen der katholischen Kirche, die sich je nach Glaubensnähe oder -ferne als „schwarze Schafe“ verbuchen lassen; oder als Produkte eines Männerbundes, dessen Mitglieder dem Sex abschwören und sich stattdessen dem Gehorsam verpflichten, und dem Schweigen, das auch sie deckt. Diese Schule war eine Reformschule, hoch angesehen, berühmte Schüler hatte sie auch, Klaus Mann etwa und Daniel Cohn-Bendit. Was Letzterer dort erlebt hat, davon ist wenig bekannt, vielleicht haben sie ihn das Revoltieren gelehrt.

„Kinderschänder Cohn-Bendit“

Vielleicht Ärgeres: „Mein ständiger Flirt mit allen Kindern nahm bald erotische Züge an“, berichtete Cohn-Bendit 1975 in „Der Große Basar“ über die Zeit, in der er später selbst Kinder betreute, in einem Kinderladen: „Es ist mir mehrmals passiert, dass einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln.“

Die Kinder waren fünf Jahre alt, er war irritiert, ließ es zu und streichelte zurück. Seitdem kocht periodisch die Beschimpfung „Kinderschänder Cohn-Bendit“ hoch, jetzt natürlich wieder, manche wollen ihre Sünden (oder die ihrer Brüder) gerne hinter denen anderer vergessen machen, andere sehen die Logik des Augsburger Bischofs Walter Mixa bestätigt, der den sexuellen Missbrauch durch Kirchenmänner der sexuellen Libertinage der 68er zurechnen will (als ob es ihn zuvor nicht gegeben hätte).

Aber die Aufrechnung ist schief und wenig hilfreich. Schief ist sie insofern, als Cohn-Bendit in aller Öffentlichkeit handelte, er publizierte es ja auch. Und von den Kindern hat, soweit bekannt, keines Schaden genommen, manche verteidigten ihn später gegen den „Kinderschänder“-Vorwurf. Er selbst tat es auch, es sei um „Tabubrechen“, „provozieren“ und eine „neue Sexualmoral“ gegangen.

Ja, 68 war eine antiautoritäre Bewegung: Es ging gegen den „autoritären Charakter“ – den, der weder intellektuell noch emotional einen Stand in sich findet, sondern der Außenleitung bedarf, der Prototyp war Heinrich Manns „Untertan“ –, und es ging gegen Strukturen, die Menschen dazu machen, Kirche und Familie gehörten dazu, man hatte es von Wilhelm Reich und Alice Miller („Schwarze Pädagogik“) gelernt.

Aber darum ging es nicht erst Cohn-Bendit, darum ging es auch seiner Schule, die vor hundert Jahren gegründet wurde. Das macht den Fall so verstörend, das lenkt die Missbrauchsdebatte in einen breiteren Kontext. Die Odenwaldschule hatte einen „aufgeschlossenen Geist“ (Cohn-Bendit), sie wollte Persönlichkeiten bilden.

„Pädagogischer Eros“

Und zwar mit aller Liebe der Pädagogen. Die war schon bei Platon, dem Erfinder des „pädagogischen Eros“, auch sexuell, und Missbrauchsfälle an Reform-Internaten sind seit den 20er-Jahren bekannt. Die Gegenrichtung zum „Untertanen“ feit also nicht vor den (nur) ihm zugemuteten Verfehlungen: Der Kern des Problems liegt offenbar im gemeinsamen – nach außen abgeschlossenen – Leben von Schülern und Erziehern (mag es besondere Lehrer-Charaktere anziehen oder Verdrängtes manifest werden lassen). Und dieses Leben gab/gibt es eben am längsten und häufigsten in kirchlichen Schulen.

Der Rest ist vertraut, seit 1999 wurde im Odenwald vertuscht, die Leiterin formulierte es so: „Es war ein geschlossenes System.“
Quelle: diepresse.com

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Bürde aus Scham und Schuld

Paulus Hochgatterer über Kindesmissbrauch, die Rolle der Kirche sowie grundsätzliche Probleme von Kindern und Erwachsenen.

KURIER: Warum kommt Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche so häufig vor?
Paulus Hochgatterer: Ich weiß nicht, ob das in der Kirche so häufig vorkommt. Dazu gibt es keine verlässlichen Untersuchungen. Aber weitgehend geschlossene soziale Systeme neigen dazu, Geheimnisse gut zu bewahren. Das gilt vor allem auch für Internate, die familienähnlich funktionieren. Dort sind Geheimnisse gut aufgehoben, besser als in offeneren Systemen.

Kardinal Schönborn macht die Sexualisierung in der Gesellschaft mitverantwortlich für Kindesmissbrauch.
Da muss man sehr genau differenzieren. Die eine Ursache für sexuellen Missbrauch gibt es nicht. Einer von vielen Faktoren, die eine Rolle spielen, ist der ökonomische Faktor. Mit Sexualität wird Geschäft gemacht. Und hier, aber nur hier gilt: Die Sexualisierung der Gesellschaft trägt dazu bei, dass es auch für Sexualität mit Kindern einen Markt gibt.

Inwieweit spielen der Zölibat oder die Sexualmoral der Kirche eine Rolle?
Sexualität ist ein Grundbedürfnis des Menschen, das sich schwer zügeln lässt. Wenn man in einem System existieren muss, in dem das Leben der Sexualität und die Lust an ihr verboten wird, führt das zu Schwierigkeiten.

Die Fälle, die jetzt bekannt werden, liegen oft 20, 30 Jahre zurück. Warum erfährt man so spät davon?
Weil die Opfer ungeheuer belastet sind. Weil auf ihnen eine Bürde aus Scham, Schuld und einer massiven Selbstwerte-Einbuße lastet. Es ist sehr schwer, diese Bürde abzuwerfen. Oft gelingt das gar nicht. Jetzt, wo eine Tür geöffnet wurde, nützen einige Opfer die Möglichkeit und werfen diesen Rucksack auch ab.

Themenwechsel: Wenn es um Kinder geht, kommen viele negative Bilder: Aggressiv, verhaltensauffällig, unkonzentriert. Man hat das Gefühl, es gibt nur Problemkinder.
Ich halte das vor allem für ein projektives Phänomen von uns Erwachsenen. Weil immer rascher alles anders wird, ist es schwieriger geworden, mit der Welt vertraut, also erwachsen zu werden. Parallel dazu erleben wir, wie unsere Kinder mit der sich rasch verändernden Welt besser umgehen können als wir. Den Unmut darüber, die Ängste, die Aggressionen – die projizieren wir auf die Kinder. Es sind die Erwachsenen, die die Probleme haben. Die Kinder können mit der Welt besser umgehen. Aber es ist ja in gewissem Sinn ein Job von uns Erwachsenen, sich über die Kinder aufzuregen. Damit ermöglichen wir ihnen, konfliktfähig zu werden.

Haben Sie Wünsche an die Politik?
Sicher. Ganz viel Geld für Kinder und Jugendliche – für die Kinder- und Jugendpsychiatrie sowieso. Und für ein Schulsystem, in dem mehr individuelle Förderung möglich ist. Außerdem wünsche mir insgesamt eine Haltung, die die Freiheit, die Kinder und Jugendliche brauchen, in den Mittelpunkt stellt – und nicht die Regeln, an die sie sich zu halten haben. Auch das kann von der Politik gefördert werden.

Ist es nicht das Problem vieler Kinder, dass sie nicht mit Regeln umgehen können, weil sie keine Regeln kennen?
Das stimmt ja nicht. Wir Erwachsene können mit Regeln nicht umgehen. Kinder und Jugendlich können super damit umgehen. Aber sie haben weniger Freiheiten als früher. Sie sind wesentlich mehr in Strukturen eingespannt – in der Schule, im Studium, aber auch in fixe Kommunikationsstrukturen. Sich im Facebook zubewegen, ist nicht nur eine Freiheit, sondern auch eine Verpflichtung.

Haben Kinder heute andere Sorgen als früher?
Als ich überlegt habe, Medizin zu studieren, habe ich mich gefragt: Will ich Landarzt werden, ein berühmter Chirurg oder doch Psychiater? Jetzt beschäftigen sich Jugendliche mit der Frage: Wie schaffe ich die Zugangsprüfung für das Studium?

Ist die Jugend also eine No-Future-Generation?
Überhaupt nicht. Das ist eine totale Future-Generation. Die packen das schon.
Hochgatterer: Schreibender Psychiater

Arzt Paulus Hochgatterer (48) wuchs in Amstetten in NÖ auf und studierte Medizin und Psychologie in Wien. Er leitet die Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie im LKH Tulln (NÖ). Seine Bücher basieren auf seinen beruflichen Erfahrungen.

Autor Er hat zahlreiche Bücher und ein Bühnenstück geschrieben. Sein neuestes Werk „Das Matratzenhaus“ beschäftigt sich mit Kindesmissbrauch. Hochgatterer erhielt unter anderem den Deutschen Krimipreis und den Europäischen Literaturpreis.

Quelle: kurier.at
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Die Kinderjäger

Psychotherapeut Hannes Doblhofer betreut pädophile Täter: Wer sie sind, wie sie vorgehen und was man gegen sexuellen Missbrauch tun kann.
Manche kommen einmal pro Woche, andere mehrmals, drei Jahre lang oder auch zehn, gegen Ende kommen einige sogar freiwillig. Anfangs meist nicht: Psychotherapeut Hannes Doblhofer betreut verurteilte Straftäter, die nach der Haft die Weisung haben, sich therapieren zu lassen. Doblhofer betreut pädophile Täter. Sie kommen zu ihm, legen sich auf die schwarze Couch, „und dann versuchen wir zu graben und Persönlichkeitsmerkmale freizulegen“.

Die meisten sind männlich, oft verheiratet, mit ganz normalen Familien – an der Oberfläche. Tief drinnen: eine gestörte, verbotene Sexualpräferenz. Eine Suche nach dem gewissen Kick. Unreife. Sehnsucht nach dem Reinen, Unschuldigen. Der typische Täter, sagt Doblhofer, weiß wenig über sich selbst, hat wenig Einfühlungsvermögen für einen erwachsenen Partner, dafür fixe Vorstellungen, wie er zur Lusterfüllung kommen kann. „Und dazu benutzt er ein Kind.“

Verführer
Gewalt ist dabei selten im Spiel. „Pädophile“, sagt Doblhofer, „sind Verführer, keine Vergewaltiger.“ Sie schleichen sich ein, manipulieren, nähern sich an. „Sie sind wie Jäger, die ihre Beute genau beobachten.“ Dabei lassen sie sich Zeit, bei Widerstand weichen sie zurück. Denn der pädophile Täter will Vertrauen, er will ein guter Freund sein – was nicht heißt, dass er nicht auch seine Autorität einsetzt, wenn er muss.

Und es sind alle dabei: Hilfsarbeiter, Ärzte, Richter. „Mit dem einzigen Unterschied“, beobachtet Doblhofer, „dass jene aus einfachen Verhältnissen öfter angezeigt werden und jene mit höherem Status sich freizukaufen versuchen.“ Oft sind die Täter auch dort, wo Kinder sind: in Schulen, Jugendklubs, Vereinen. Dass Priester überrepräsentiert sind, glaubt er nicht. Aber natürlich hätten es Pädophile in einem tabubefrachteten, lustfeindlichen Milieu, in dem über Sehnsüchte nicht gesprochen wird, leichter als anderswo.

Ihr gemeinsames Merkmal ist das Schönreden. Sie wissen, dass sie Unrecht tun, und modellieren sich eine Begründung zurecht, nach dem Motto: „Das Kind wollte es, wieso sonst ist es immer zu mir gekommen?“ Im Zentrum der Therapie steht daher die Deliktbearbeitung, die dem Täter klarmachen soll, welches Leid er seinem Opfer angetan hat. Darüber hinaus sollen die Männer ein Instrumentarium entwickeln, um in Zukunft sich und andere nicht mehr zu gefährden. „Das kann bedeuten, dass sie mit einem Kind nicht mehr allein in einem Raum sein dürfen.“

Oft kommt dabei auch zur Sprache, was dem Täter selbst widerfahren ist. Die Hälfte der Verurteilten, mit denen Doblhofer arbeitet, hat eine eigene Missbrauchsgeschichte. Ein dunkles Thema, das Doblhofer schon lange begleitet: 1970 begann er als Sozialpädagoge in Heimen und öffentlichen Erziehungsanstalten zu arbeiten und musste feststellen, „wie viele Übergriffe dort stattfanden“. Später, als Psychotherapeut, war er regelmäßig mit Opfern sexueller Gewalt konfrontiert – obwohl die Klienten oft wegen ganz anderer Dinge in Behandlung waren. „Damals habe ich mich dafür zu interessieren begonnen, wie jemand zum Täter wird.“

Erforscht ist diese Frage bisher kaum – ebenso wenig wie die Frage, wie die Gesellschaft mit den „pädophilen Zeitbomben“ umgehen soll. Vorreiter auf dem Gebiet ist die Berliner Charité. „Lieben Sie Kinder mehr, als Ihnen lieb ist?“, fragt sie seit einigen Jahren. Über tausend Männer haben bereits mit Ja geantwortet und sich aktiv an die Einrichtung gewandt, darunter auch viele aus Österreich.

Kein Täter werden.
Ziel des Forschungsprojekts, bei dem auch Doblhofer mitgearbeitet hat, ist es, herauszufinden, wie man sexuelle Übergriffe auf Kinder im Vorfeld verhindern und den Männern helfen kann, „kein Täter zu werden.“ Auch Bayern hat als Reaktion auf die Missbrauchsfälle die Einrichtung eines Präventionszentrums beschlossen. In Österreich gibt es Derartiges nicht, auch wenn es immer wieder Männer gibt, die von sich aus Hilfe suchen.

Eine mögliche Anlaufstelle ist das Forensisch Therapeutische Zentrum Wien, das auch Menschen hilft, die gefährdet sind, eine Straftat zu begehen. Doblhofer gehört dem Zentrum an. Viele Betroffene, sagt er, seien verzweifelt, weil sie nicht wissen, wieso sie auf Kinder fixiert sind; oder aber krank, depressiv. Die aktuelle Debatte, hofft er, könnte auch hier einiges aufbrechen lassen. Dass im Diskurs bisweilen von „kastrieren, einsperren, erschlagen“ die Rede ist, sei da freilich nicht gerade hilfreich.

Um sich dem Problem zu stellen, müssten Männer einen guten Zugang zu ihren eigenen Gefühlen haben – was häufig nicht der Fall sei. „Wer hat denn überhaupt Zeit, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen?“

Schmaler Grad. Prävention ist aber auch von ganz anderer Seite möglich. Denn Missbrauch funktioniert auch deshalb, weil das Tabu schon viel früher beginnt, nämlich dort, wo es um eine offene Sexualerziehung geht. Ein Kind, das Dinge benennen kann, kann im Ernstfall auch darüber berichten. Das Schwierige ist, dass die Grenze oft schmal ist. Es kann ja sein, dass ein 12-Jähriger fasziniert ist von der Autorität eines Priesters oder Lehrers, es kann ja etwas Gutes sein, wenn er zu so einem Menschen Vertrauen hat. Es tut ihm gut, wenn ihn dieser umarmt, sagt, „Du bist klass, und ich bin da, wenn du etwas brauchst.“ Das, sagt Doblhofer, „kann toll sein oder ein schrittweiser Übergriff, das ist das Teuflische.“

Genau hier kann das Ganze aber auch enden – wenn das Kind gelernt hat, Grenzen zu zeigen, Nein zu sagen. Damit ein Kind das lernt, müsse man es ernst nehmen in dem, was es will und nicht will – auch in ganz anderen, alltäglichen Dingen. Wenn ein Kind etwas partout nicht essen will oder ein Kleidungsstück nicht anziehen will, weil es kratzt: „Dann darf man nicht sagen: ,Ach, sei nicht so.‘ Lieber stärkt man seine natürliche Selbstwahrnehmung – aber das braucht Zeit.“ Und ist auch nicht immer bequem.

Aber wichtig: Gesichert sei, so Doblhofer, dass jedes vierte Mädchen in irgendeiner Weise attackiert wird. Auch würden nur zehn Prozent aller manifest pädophilen Übergriffe bestraft. „Das zeigt, wie potent die Tätergruppe ist, wie hoch die Dunkelziffer im Nahfeld ist, wo sich ja ein Großteil abspielt – und wie gefährdet die Kinder sind.“

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 28.03.2010)
Quelle: diepresse.com
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